Die Liste by John Grisham

Die Liste by John Grisham

Autor:John Grisham [Grisham, John]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 3453430980
Herausgeber: Heyne Verlag
veröffentlicht: 2001-01-02T00:00:00+00:00


22

Ende September waren innerhalb von einer Woche zwei bedeutende Todesfälle zu verzeichnen. Zum einen starb Wilson Caudle – zu Hause, allein in dem Schlafzimmer, in das er sich nach seinem Abschied von der Times zurückgezogen hatte. Es war merkwürdig, dass ich in den sechs Monaten, seit ich die Zeitung übernommen hatte, nicht einmal mit ihm gesprochen hatte, aber ich war zu beschäftigt gewesen, um mir darüber Gedanken zu machen. Traurig war nur, dass ich überhaupt niemanden kannte, der ihn in den letzten sechs Monaten gesehen oder mit ihm gesprochen hatte.

Er starb am Donnerstag und wurde am Samstag beerdigt. Am Freitag eilte ich zu Mitlo, und wir besprachen, welches bei einem solchen Anlass die richtige Kleidung für eine bedeutende Persönlichkeit wie mich war. Er bestand auf einem schwarzen Anzug, zu dem er mir eine perfekt passende Fliege präsentierte: schmal, mit schwarzen und braunen Streifen, sehr gediegen, sehr respektabel. Nachdem er sie gebunden und den Anzug zurechtgerückt hatte, musste ich zugeben, dass ich ein eindrucksvolles Bild bot. Er holte einen schwarzen Fedora aus Filz aus seiner persönlichen Kollektion, den er mir stolz für die Beerdigung lieh. Immer wieder betonte er, es sei eine Schande, dass amerikanische Männer keine Hüte mehr trügen.

Den letzten Schliff sollte mir ein glänzender schwarzer Holzstock verleihen. Als er ihn hervorholte, starrte ich ihn an. »Ich brauche keinen Gehstock«, protestierte ich. Es kam mir höchst albern vor.

»Das ist ein Spazierstock«, sagte er und drückte ihn mir in die Hand.

»Was ist da der Unterschied?«

Daraufhin hielt er mir einen wirren Vortrag über die entscheidende Rolle, die Spazierstöcke bei der Entwicklung der zeitgenössischen Männermode in Europa gespielt hatten. Offenbar lag ihm das Thema sehr am Herzen, und je mehr er sich ereiferte, desto stärker wurde sein Akzent, sodass ich immer weniger verstand. Damit er Ruhe gab, nahm ich den Stock.

Als ich am folgenden Tag die Methodistenkirche betrat, in der die Trauerfeier für Spot stattfand, zog ich die Blicke der Damen auf mich. Einige Männer ließen mich ebenfalls nicht aus den Augen, wobei sich die meisten vermutlich fragten, was ich mit einem schwarzen Hut und einem Stock wollte. Stan Atcavage, mein Bankier, flüsterte hinter mir so laut, dass ich es hören konnte: »Gleich fängt er an zu singen und zu tanzen.«

»Der war wieder bei Mitlo«, flüsterte jemand zurück.

Aus Versehen schlug ich mit dem Stock laut gegen die Bank vor mir, sodass die Trauergäste zusammenzuckten. Mir war nicht ganz klar, was man mit einem Stock bei einer Beerdigung tat, also klemmte ich ihn mir zwischen die Beine und legte den Hut in den Schoß. Es war harte Arbeit, das richtige Image zu vermitteln. Als ich mich umsah, sah ich, dass Mitlo mich anstrahlte.

Der Chor begann, »Amazing Grace« zu singen, und die Stimmung wurde trübsinnig. Dann gab Reverend Clinkscale einen kurzen Überblick über Mr Caudles Lebensgeschichte: 1896 als einziges Kind unserer geliebten Miss Emma Caudle geboren, ein Witwer ohne eigene Kinder, Veteran des Ersten Weltkriegs und über fünfzig Jahre lang Chefredakteur der Wochenzeitung unseres County. Er hatte die Gestaltung von Nachrufen zu einer Kunst erhoben und würde dafür unvergessen bleiben.



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